Das Seven Serpents führt über 540 Kilometer und 10.600 Höhenmeter über die Inseln Krk und Cres nach Triest. 73 Stunden Stein, Staub und Pizza.

Kilometer 0: Ljubljana
Ich zittere. Ungewöhnlich warm für den bisherigen Frühling scheint die Sonne an diesem Samstag Anfang Mai auf Ljubljana herab. Ein paar Influencer haben sich gerade noch beim entspannten Verspeisen einer Pizza zur letzten Rennvorbereitung filmen lassen. Von so viel Gelassenheit bin ich weit entfernt. Wie auch vom Ziel. Das liegt 538 Kilometer von hier, im italienischen Triest. Dazwischen liegen Berge, Hügel, Stock, Stein, das Meer, Tränen. Gravel stand am Etikett. Es ist ein dehnbarer Begriff, wie sich zeigen wird.
10.600 Höhenmeter werden es am Ende sein. Das ist einmal der Mount Everest und dann noch zweimal der Semmering obendrauf. Mit voll bepacktem Rad: Schlafsack, Isomatte, Gewand für Regen und kalte Nächte, Powerbank für Smartphone, GPS und Lichter. Denn schlafen werde ich in den nächsten Tagen nicht viel: Nur fahren, fahren, fahren. Die Zeit bleibt bis ins Ziel nicht stehen.

"Bis zum ersten Anstieg bleiben wir zusammen", sagt Thomas noch. Er, Lukas, und ich haben sich unter die rund 150 Wagemutigen eingereiht, die das Seven Serpents Quickbite in Angriff nehmen. Bereits vor dem Startschuss weiß ich: Ich werde Tommy das nächste Mal in Triest sehen. Er ist einfach zu stark. Und ich: Ich zittere. Aber dann geht es los.
Kilometer 40: Rakitna
Langsam, ganz langsam fällt die Anspannung. Als ich an einem Friedhof meine Trinkflaschen auffülle, treffe ich Lukas wieder, der zunächst mit Tommy enteilt war. Eine Weile fahren wir gemeinsam. Den ersten längeren Anstieg haben wir bereits hinter uns. Kompakter Kies, der auf einer breiten, kurvigen Forststraße bis hinauf auf tausend Höhenmeter führt. Hier irgendwo hat vor zehn Tagen ein Bär einen Spaziergänger attackiert und Teile des Beins abgebissen. Ich blende das aus.

Die nächsten Stunden sind ein Auf und Ab. Bergauf atme ich durch. Es ist nicht allzu steil. Die Beine sind wach. Noch. Bergab aber schlägt mein Herz schneller. Zwei Wochen vor dem Start war ich gestürzt, in einer Abfahrt, auf Schotter. Landete im Krankenhaus, mit tiefen Schürf- und Schnittwunden, und einer Ellbogenprellung, die mir den Start bis wenige Tage vor dem Rennen mehr als fraglich erscheinen ließ. Aber ich bin hier. Wir furten ein kleines Bächlein. Meine Bremsen werden auf den nächsten Kilometern Geräusche von sich geben, die jeden Bären im Umkreis von zehn Kilometern nachhaltig vertreiben.
Kilometer 95: Predjama
Langsam dämmert der Abend. Ein Impuls in mir sagt: Weiterfahren. jeder Kilometer zählt, solange es noch hell ist. Doch wer vor Burg Predjama nicht wenigstens ein paar Minuten halt macht, ist selbst Schuld. Im zwölften Jahrhundert hatten die Patriarchen von Aquilea den unnahbaren Bau in eine kahle Felswand getrieben. Ein paar Jahrhunderte später erkannte Raubritter Erasmus von Luegg die Vorzüge der abseitigen Location. Zu seinem Unglück verriet ihn später einer seiner Untergebenen. Ein Geschoss soll ihn am Gang zum stillen Örtchen getötet haben. Sagt man.

Von hier ist es nur wenige Kilometer weiter bis Postojna, zu Deutsch Adelsberg. Das Licht wird immer schummriger. Die Fahrer wissen, was jetzt auf sie zukommt: Noch einmal geht es auf über tausend Höhenmeter hinauf. Rund 40 Kilometer sind es bis zur nächsten größeren Ortschaft. Es heißt: Essen kaufen. Wasser nachfüllen. Ich rolle zwei kalte Pizzastücke in die Trikottaschen. Sie werden mir noch gute Dienste erweisen.
Kilometer 120: Sveta Trojica
Erst ist es orange. Dann blau. Dann violett. Dann schwarz. Innerhalb weniger Minuten verschwindet das Licht des Tages hier oben am Berggipfel, vor der Kapelle der Sveta Trojica, der Heiligen Dreifaltigkeit. Es ist spürbar frischer geworden. Um mich herum ziehen sich Fahrerinnen und Fahrer ihre Jacken an und stürzen sich ins Tal. Plötzlich merke ich, dass ich alleine bin. Alleine für eine lange Abfahrt im Dunkeln. Im Wald.

Was kommt, sind eineinhalb Stunden, auf die mich nichts vorbereitet habt. Meine Nachtfahrten, die ich im Training im Umfeld von Wien eingestreut hatte, haben schließlich im Vertrauten stattgefunden. Ich wusste: In ein, zwei Stunden werde ich zuhause sein. Hier weiß ich nicht, was mich erwartet. In der nächsten Kurve. Aber auch im Tal. Gibt es noch etwas zu essen? Zu trinken? Einen Platz für meinen Schlafsack? Plötzlich verspüre ich Angst, in einer Form, wie sie mir bislang unbekannt war. Erst packt sie mich. Reißt mich mit, will mich nicht loslassen. Doch dann folge ich einer Eingebung, und beginne lauthals zu singen. Warum es gerade "Yellow Submarine" von den Beatles ist, wird sich nie mehr klären lassen. Aber es hilft. Vielleicht vertreibe ich damit auch die Bären, die weinend ob meiner Gesangeskünste flüchten.
Kilometer 142: Cerknica
Es ist eine schreckliche Nacht. Zwar kann ich mit ein paar Mitstreitern auf einem Fliesenboden in einem alten Vereinsheim mit Waschbecken übernachten. Doch in meinem Kopf dreht sich unaufhaltsam das Karussell der Erlebnisse des Tages weiter wie die Kurbel an meinem Rad. Ich schlafe keine Minute. Um vier stehe ich auf, packe zusammen, fahre weiter. Auf einer Straße, die mitten durch einen See führt, wiederholt sich die Farbimprovisation des Vorabends in umgekehrter Reihenfolge. Dann geht es wieder bergauf. Irgendwann verlasse ich Slowenien und komme nach Kroatien, ohne es wirklich zu merken. Wobei das nicht stimmt: Die Straßen werden schlechter, der Schotter ruppiger, tiefer, die Abfahrten technischer. Die Fahrt wird langsamer, und nicht nur, weil ich schwächer werde. Aber ich fahre. Noch. Denn mit dem, was dann kommt, hat das alles nichts zu tun.
Kilometer 250: Soboli
Die Sonne knallt auf nackten Fels. Es ist High Noon. Am Wegrand liegt der skelettierte Schädel eines toten Tiers. Ich vermute, es ist eine Kuh, die hier irgendwann verendet ist, weil sie nicht mehr weiter konnte. Ein Schicksal, das ich auch mir ausmale. Denn ich schiebe. Schon seit einer oder zwei Stunden, so genau kann ich das nicht sagen. Mein Zeitgefühl habe ich längst irgendwo verloren, und umzudrehen zahlt sich gewiss nicht aus.
Es geht über eine Art Geröllhalde nach oben. So lose ist der Untergrund, dass an fahren nicht zu denken ist. Selbst meine Tritte sind unsicher, mit meinen Füßen rutsche ich immer wieder nach hinten weg. Dazu schiebe ich ein schwer beladenes Rad. Ein junger Mann aus Bratislava, den ich an dieser Stelle einhole, stürzt im Gehen. Die Verzweiflung ist ihm anzusehen. Wenige Stunden später wird er das Rennen aufgeben. Was mich weitertreibt? An dieser Stelle weiß ich es nicht. Was ich aber weiß: Mein Zeitplan, in Montagabend in Triest zu sein, wird nicht halten. Die Erkenntnis brennt wie Schnaps in einer frischen Wunde.
Kilometer 320: Krk

Krk, das ist schon fast wie zuhause, sollte ich meinen. Mit sieben habe ich hier mit meinen Eltern meinen ersten Urlaub am Meer verbracht. Wir kamen wieder. Erst letztes Jahr war ich dann mit dem Rad hier. Vertrautes Terrain also. Und doch ist die Insel so schroff, so rau, dass kein Platz ist für Gefühle der Heimeligkeit. Vor allem, wenn es Nacht wird, und wieder lange Passagen im ausgesetzten Terrain anstehen. Manche würden "Gstettn" dazu sagen. Ich entscheide mich daher, vor einer Kirche zu campieren, in Polje, ein paar Kilometer von der Ostküste ins Innere der Insel. Sonntagabend ist niemand mehr hier zu sehen, von einem offenen Lokal hatte ich erst gar nie zu träumen gewagt. Aber in einem Garten arbeiten noch zwei Einheimische. Sie füllen meine Wasserflaschen wieder auf, damit ich gut durch die Nacht und in den nächsten Tag hineinkomme. Die lange Schiebepassage in der prallen Sonne hat mich spürbar ausgedörrt, ich sauge Wasser wie ein Schwamm.

Neben dem Kirchturm scheint eine Laterne. In ihrem Lichtkegel baue ich mein Lager auf. Ein paar Katzen beäugen mich. Ich putze mir die Zähne, schaue mich – unnötige Vorsichtsmaßnahme – noch mal um, ob mich wirklich niemand sieht, und spucke den Schaum in eine Topfpflanze, der ich noch ein langes Leben wünsche. Dann gehe ich schlafen.
Kilometer 350: Die Fähre
Nach dieser Nacht beschließe ich, dass sich die Wege von mir und meiner Isomatte zeitnah trennen werden. Ihr Komfortgrad liegt in etwa zwischen dem eines Steines und dem von etwas ganz hartem. Dennoch war die Nacht besser als die erste, die Müdigkeit wohl bereits ausgeprägter. Ab zwei Uhr morgens meldeten sich die Glocken im Kirchturm über mir zwar im Viertelstundentakt, aber das ist Berufsrisiko. Jetzt stehe ich im Hafen und warte auf die Fähre, hinüber nach Cres. Knapp eine Stunde verliere ich dabei. Zeit, die ich aber nutze, um mich für die aufkommende Vormittagssonne zu präparieren.

Die Fähre selbst ist gut frequentiert, allerdings nur mit Autos. In der Kolonne rolle ich auf das Stahlungetüm, habe Angst, zwischen den sich eng aneinander reihenden Wagen aufgerieben zu werden. Ich merke: Ich bin hier geduldet, mehr nicht. Das Warten und Stillhalten lässt zudem der Müdigkeit in meinen Beinen Zeit, sich auszubreiten. Nach zwanzig Minuten Überfahrt bin ich also froh, als es weitergeht. Später wird sich das gleiche Spektakel bei der Überfahrt von Cres nach Istrien wiederholen.
Kilometer 390: Cres
Wieder: Lose Steine, steile Rampen, sengende Sonne, schnödes Schieben. Die Zeit entgleitet mir. Thomas ist schon bald in Triest. Mein Fahrplan wird immer mehr zur Makulatur. Erst blicke ich immer wieder auf die Uhr, die Abfahrtszeiten der nächsten Fähre im Kopf. Doch bald wird klar, ich werde sie versäumen.

Meine Lippen trocknen aus, die spröde Haut reißt auf, das Salz des Schweißes dringt ein, lässt sie anschwellen. Ich fahre wie in einem Tunnel, und auch die Landschaft, die dichten Sträucher, die Steine, geben wenig Blick in die Weite frei. Vor meinem inneren Auge sehe ich Organisator Bruno vor mir, zuhause, auf der Couch, wie er mit dem breiten Grinsen eines satanischen Henkers lacht bei der Vorstellung, uns auf diese Strecke zu schicken. Ich beschließe nicht aufzugeben. Am Ende will ich lachen. Auch wenn ich jetzt weit davon entfernt bin.
Kilometer 415: Lovran
Wenn man's in einem Satz zusammenfassen will, dann ist ein "unsupported" Radrennen eine Aneinanderreihung guter und schlechter Entscheidungen. Das beginnt bei der Entscheidung, überhaupt an den Start zu gehen, für die man sich später in der Regel mehrfach verflucht. Von da an hat man dann viel Zeit, sich seine Entscheidungen zu überlegen.
Die Entscheidung, die dritte Nacht in Lovran zu verbringen und nicht noch zwei Stunden weiterzufahren, fällt mir schwer. Es ist noch recht hell, und je mehr ich heute schaffe, desto früher bin ich morgen im Ziel in Triest. Aber: Weiterfahren bedeutet auch, den letzten langen Berg des Rennens in der Nacht meistern zu wollen, mit vielen Schiebepassagen, im tiefen Wald, weit entfernt von jeder Ortschaft. Ich nehme mir daher ein Zimmer, das billigste, das der Nachbarort von Opatija – in den Zeiten der Monarchie ein Sehnsuchtsort für Bürgertum und Adel – zu bieten hat. Später kommt auch Lukas vorbei, wir wollen den letzten Tag gemeinsam hinter uns bringen. Am Abend sagt uns unser Gastgeber noch, er werde unsere Räder über Nacht wegsperren, wir sollen ihn in der Früh einfach aus dem Bett läuten, damit er sie uns wiedergeben kann. Auf unseren Hinweis, dass wir um drei Uhr früh losstarten wollen, zuckt er nur mit den Schultern. Alles kein Problem.
Und tatsächlich: Als wir in stockfinster Nacht bei ihm läuten, steht der gute Mann – ein gesetzter älterer Herr – zwei Sekunden später vollständig angezogen vor uns und wünscht uns eine gute Fahrt. Seine Einschätzung, dass wir in vier Stunden in Triest sein werden, teilen wir zwar nicht, aber man muss ja nicht gleich in aller Früh eine Diskussion vom Zaun brechen.
Kilometer 460: Učka
Učka klingt harmlos. Irgendwie würde der Name für ein kleines Kalb passen, denke ich mir, während ich mein Rad wieder mal durch eine vom Regen der letzten Wochen aufgeweichte Furche aus Sand und losem Gestein schiebe. Denn harmlos ist hier nichts. Auch nicht am Plateau, das wir nach mehreren Stunden Auffahrt erreichen. Der Wind reibt sich laut und schneidend an den Felsen und sprüht uns immer wieder Regentropfen ins Gesicht. Auf einem Wanderweg holpern wir unrhythmisch dahin. Es sind zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr nur die Beine und der Hintern, die Schmerzen. Die Arme sind müde von den abertausenden Erschütterungen der Fahrt, die Finger beginnen, taub zu werden.

Nahe der kroatisch-slowenischen Grenze halten mich auf einem schmalen, ausnahmsweise asphaltierten, Sträßchen grimmig dreinblickende Grenzbeamte an. Ein vollbepackter Radfahrer mit Augenringen und einer Patina aus Staub und Schweiß scheint ihnen verdächtig. Sie brauchen einige Minuten, um meinen Pass zu begutachten und zu scannen. Dann darf ich weiter.
Kilometer 538: Triest
In einem Unsupported-Rennen geht es nicht nur um Entscheidungen, es geht auch um Träume. Oft um solche, die enttäuscht werden. Als Lukas und ich den letzten Hügel vor Triest erreichen, schlagen wir anerkennend unsere Fäuste aneinander. "Und jetzt entspannt bis ans Meer rollen", reden wir uns selbst ein. Die Welt als Wille und Vorstellung. In Wirklichkeit peitscht uns der steinige Untergrund auch auf den letzten Kilometern hinab nach Triest noch einmal durch. Innerlich bitte ich, nur nicht jetzt noch zu stürzen oder einen Reifenschaden zu bekommen. Doch plötzlich spuckt uns der Prügelweg aus und wir landen auf Asphalt – und mitten im italienischen Mittagsverkehr. Die Einsamkeit der letzten Tage und die Stille – sie zerschellen an Vespas, Autos, Bussen, Lastkraftwagen, Reisegruppen. Es sind nur zwei oder drei Kilometer, doch mit jeder Kurve, hinter der nicht die Piazza Unita d'Italia, das Ziel des Rennens, auftaucht, sacke ich ein kleines bisschen in mir zusammen.
Doch dann ist es soweit. Jäh lichten sich die dunklen Häuserschluchten. Auf einmal wird es hell und warm, und der Triestiner Hauptplatz mit seinem Gepräge aus beige-weißem Stein empfängt uns. Und mit ihm Thomas, mit dem wir gestartet waren, und mein Vater, der lange, sehr lange, hier auf uns gewartet hat. Und Bruno, der Organisator. Den ich so oft in den letzten 73 Stunden verflucht hatte. Den ich in meinen Gedanken mit vergiftetem Grinsen über uns hatte lachen sehen. Vergessen. Einfach nur froh, hier zu sein. Und froh über jeden einzelnen der 538 Kilometer, die hinter mir liegen.
