Border Hopping zwischen Österreich und Italien

Tag 1: Über die Grenze der Kindheit
Eibiswald, Der Aufbruch
Slowenien war bei mir immer eine Familienangelegenheit. Mein Nachname erinnert noch daran, von wo meine Vorfahren einst in die Grazer Gegend gezogen waren. Ich selbst spreche weder ein Wort Slowenisch noch ein Wort Windisch. Das Land kenne ich vor allem von der Durchreise ans Meer. Und von den Besuchen bei meiner Großmutter in Eibiswald – quasi dem letzten Ort vor der Grenze. Vom Küchenfenster aus konnte man Slowenien sehen. Aber es blieb dennoch unerreichbar. Die da drüben waren auch nach dem Ende des Sozialismus vor 30 Jahren noch die anderen. Wo also sollte meine slowenisch-österreichische Grenzerfahrung so richtig starten wenn nicht hier, vor dem Haus, in dem meine Großmutter lebte? Nur ein Hügel über die Grenze, und dann weiter nach Westen, mal hüben, mal drüben. Bis nach Italien.

Radlpass, Kilometer 19, 668 m.ü.d.M.
Auf den letzten Kilometern nach Slowenien begegnet mir niemand mehr an diesem frühen Morgen im August. Die Bänke vor den vereinzelt auf den Hügelkuppen thronenden Bauernhöfen sind verwaist. Sonne war prophezeit. Jetzt aber hängen dichte Wolken über den Weinbergen. Ein kühler Wind bläst mir über die Arme, die auf spätsommerliche Wärme eingestellt waren. Als dann noch erschreckend langer, erschreckend lauter Donner heranrollt, runzle ich die Stirn. "Zumindest trocken Slowenien erreichen", denke ich mir. Am Radlpass setze ich wenig später - trocken - über die Grenze: von der Süd- in die Untersteiermark, wie die Gegend bis zum Zerfall Österreich-Ungarns hieß. Danach nannte man sie Štajerska – Steiermark. Mittlerweile heißt sie Koroška, also Kärnten. So dreht sich das Rad.

Aus dem Nebelmeer, mit dem mich Slowenien begrüßt, taucht wenig später die Drau auf. Behäbig wirkt sie. Beruhigend. Als ich ihr Ufer entlang Richtung Westen fahre überhole ich Mopeds, die sich der Gemütlichkeit des Flusses anpassen. Dass sie am Radweg fahren scheint hier niemand infrage zu stellen. Begrüßt werde ich von jedem. Ein aufmunterndes "Dober Dan" macht klar, dass ich hier nicht mehr in Österreich bin. Und das nicht nur wegen der Sprache.

Ravne na Koroškem, Kilometer 50
Es gibt Orte, die landen im Lonely Planet und jeder versteht sofort, warum. Dann gibt es Orte, die scheinen in keinem Reiseführer auf, aber der Durchreisende fragt sich, wie man darauf vergessen konnte. Und dann gibt es Orte, die werden's nie hinein schaffen, und man weiß auch auf Anhieb, wieso. Ravne na Koroškem ist ein Ort der letzteren Kategorie. Supermarkt reiht sich an Autohändler. Eine große Metallfabrik bildet die gestaltete Mitte. Man muss lange suchen, bis man etwas findet, das man über den Ort erzählen könnte. Aber es gelingt. Ravne ist laut modernen Nostradamus-Interpreten einer von drei möglichen Orten, an denen 2032 der Antichrist geboren und die Endzeit eingeläutet wird (neben Ravenna in Italien und Ravna Reka in Serbien). Ob die Leute hier sich dessen bewusst sind? Ich habe nicht nachgefragt.

Bleiburg/Pliberk, Kilometer 64
Gleich hinter Ravne verlasse ich Slowenien wieder. Vorerst. Ich komme nach Bleiburg/Pliberk. Seit Jahrzehnten ist wohl kaum ein Kärntner Ortsname dermaßen eng mit dem leidigen Ortstafelstreit verknüpft wie dieser. Der komplizierte Beziehungsstatus von Kärntnern und Slowenen wird mich auf meiner Reise immer wieder beschäftigen. Hier aber ist es vor allem eine kroatische Wunde, der ich begegne. Mitten im Acker hat man eine Kapelle errichtet, die an die kroatischen Opfer der letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs erinnert. Jugoslawische Truppen töteten gezielt Menschen in der Gegend, die sie für Feinde des Kommunismus hielten – darunter bis zu 45.000 Kroaten. Heute werden diese Ereignisse von kroatischen Nationalisten ausgeschlachtet. Der riesige Schotterparkplatz vor der Gedenkstätte lässt nur erahnen, was sich hier bei einschlägigen Treffen abspielt. Bei meinem Halt aber ist der Ort unheimlich verwaist: Eine leere Rednerbühne, umrahmt vom kroatischen Landeswappen und zerrissenen Bannern, die trostlos im Wind flattern.
Nicht minder befremdlich, aber doch etwas harmloser, präsentiert sich das kleine Örtchen Globasnitz. Hier hat sich ein besonders ums Ortsbild bemühter Zeitgenosse ein kleines Schlösschen im Disneyland-Stil errichtet. Damit auch Globasnitz seine Sehenswürdigkeit hat. 30.000 Arbeitsstunden sollen in Schloss Elberstein geflossen sein. Das entspricht 16 Jahren eines Fulltime-Jobs. Ein Ende ist noch nicht in Sicht.

Bad Eisenkappel/Železna Kapla-Bela, Kilometer 96
Mein Ziel für heute ist Bad Eisenkappel – Österreichs einzige Gemeinde, die sich Kurort und Luftkurort in einem nennen darf. Das ist allerhand. Viel auffälliger aber: Zweisprachigkeit ist hier nicht nur eine Frage der Ortstafel. Sonntags gibt es erst slowenischen Gottesdienst, dann deutschsprachigen, samstags feiert man gemischt. Der Kreuzweg in dem Kirchlein am Friedhof ist auf slowenisch beschriftet, die meisten Gräber tragen slowenische Namen. Es gibt eine slowenische und eine deutschsprachige Bank – beide mit dem Giebelkreuz. Nur im offenen Bücherschrank, der hier wahrscheinlich vor allem für die Kurgäste unterhalten wird, finden sich ausschließlich deutsche Titel. Kurz bin ich davor, mir eine dreibändige illustrierte Weltgeschichte aus 1963 zum Schmökern mit aufs Zimmer zu nehmen, entscheide mich dann aber doch dagegen. Am Ende hätte ich sie mir gar noch aufs Rad gepackt.

Tag 2: Straßen und Spuren
Seebergsattel, Kilometer 111, 1212 m.ü.d.M.
Der Seebergsattel ist wahrlich ein gnädiger Pass. Ganz sanft windet sich die Straße über weit ausholende, dicht bewaldete Serpentinen die Nordflanke der Karawanken nach oben Richtung slowenischer Grenze. Auf diesen ersten Kilometern des noch jungen Tages begegnen mir gerade mal zwei Autos. Ein müder Kollege am Rennrad rastet schon frühmorgens am Straßenrand. Ansonsten: Stille. Die wenigen Häuser, die hier noch stehen, sind verlassen. Als hätten sie ihre früheren Bewohner irgendwann aus Mangel an Tageslicht dem Verfall preisgegeben.

Die Passhöhe selbst ist wahrlich kein Juwel der Alpen. Die alte Grenzstation ist unbewacht, trotz Corona. Den Ausblick auf Slowenien verstellt ein Lastwagen. Ich kann ihn erst auf der Abfahrt genießen. Und selbst dann nur bedingt: Je tiefer ich ins Tal hinab gleite, desto kälter wird es. Und doch muss ich lächeln. Die Seeländer Alpen, in die ich mich nun begebe, gelten als eine der abgeschiedensten Gegenden Sloweniens. Selbst Wikipedia weiß nicht viel über sie zu erzählen und rühmt stattdessen die "nur durch das gelegentliche Geläut von Kuhglocken unterbrochene Stille". Dem ist nichts hinzuzufügen. Zwischenzeitlich stößt sogar mein Navigationsgerät an seine Grenzen und beschenkt mich mit einer fünf Kilometer langen Zusatzschleife. Ein Bauer auf seinem Traktor zeigt mir dann, wo's langgeht. Oder er will mich von seinem Grund vertreiben. So klar ist mir nicht, was sein Gefuchtel bedeutet.

Tržič, Kilometer 159
Irgendwie gelange ich nach einem steten Auf und Ab dann aber doch nach Tržič. Die Stadt liegt langgestreckt in einer Talkerbe. Von oben sehe ich Fabrikschlote und Lagerhallen. Der Tourismusverband hat dem Ort den vielsagenden Slogan "The crowdless paradise" angeheftet. Ich nicke zustimmend. Wie ich schien auch Feldmarschall Radetzky – ja, der mit dem Marsch – diesem Industrial Chic vor Hochgebirgskulisse nicht abgeneigt. Er weilte gerne hier und soll großzügig in den Ort investiert haben. Gegründet worden war die Stadt allerdings schon in grauer Vorzeit, als Ergebnis einer Massenflucht, heißt es: Vor einem Drachen nämlich, der hier in den Bergen wütete. Später dann war Tržič die Schuhhauptstadt des sozialistischen Jugoslawiens. Früher. Einen Schuh aus Tržič wird man heute wohl auch in Slowenien nur mehr schwerlich finden. An den Sozialismus erinnern mittlerweile nur noch die Weltkriegsdenkmäler, die fast durchgängig den roten Stern tragen.

Loiblpass, Kilometer 170, 1049 m.ü.d.M.
Eine andere in Stein gehauene Erinnerung ist die Straße, die in Tržič zum Loiblpass hin ansteigt. KZ-Häftlinge mussten sie und vor allem den Tunnel an ihrer Spitze für die Nazis bauen. Sie kamen aus Frankreich, Polen, der Sowjetunion, der Tschechoslowakei, Belgien, Luxemburg, Italien, Norwegen und Jugoslawien, verrät die Inschrift des Denkmals, das knapp unter dem Tunnel an sie erinnert. Dass auch Österreicher und Deutsche unter ihnen waren verschweigt die Plakette. Sie passten nicht in Titos Erinnerungskultur.

Tag 3: Ein Sommer wie früher
Jesenice, Kilometer 214
„Ein Kind bestaunt sie, ein 20-jähriger beschaut sie, ein 45-jähriger überblickt sie, und alle drei sind sie in diesem Augenblick eins und alterslos“, schreibt Peter Handke an einer Stelle über die slowenische Tallandschaft. Auch ich staune an diesem Morgen, an dem ich die ersten Ortschaften hinter mir lasse, noch bevor sich die Bewohner in den Gärten zeigen. Nach einer ruppigen Fahrt auf einem von Sturzbächen zerfurchten Schottertrail wird das Tal weit und grün. Nach Westen hin steigt es nur leicht, aber stetig und spürbar an. Eine Weile spende ich einem rüstigen Senior Windschatten, der sich mit E-Mountainbike, Aerohelm und feinstem Lycra auf eine gepflegte Samstagsrunde begeben hat. Was er mir zum Abschied nachruft verstehe ich nicht, aber es klingt auf jeden Fall aufmunternd.

Die Stadt Jesenice, die ich bald darauf erreiche, wirkt hier fast wie ein Fremdkörper, der irgendwann in der Landschaft aufgetaucht ist und nicht mehr bereit ist, zu verschwinden. Der Rauch der Fabriken prägt die einstige Waffenschmiede der Habsburger. Von LKW plattgewalzte Straßen, eine zum Stehen gekommene Blechlawine: Der Rückstau vom Karawankentunnel, der mit all den Urlaubern, die durch ihn hindurch wieder zurück in die Heimat wollen, gar nicht mehr fertig wird. Kilometerweit sehe ich die Münchner, Bremer und Hamburger in der langsam aufkommenden Hitze schmoren. Vier Stunden sollen sie hier noch gestanden haben, höre ich am Abend in den Nachrichten.

Laghi di Fusine, Kilometer 251, 950 m.ü.d.M.
Die in Jesenice jäh unterbrochene Stille will sich so bald nicht wieder einstellen. Eine alte Bahntrasse hat man hinter der Stadt zum Radweg umgebaut. Hier herrscht reger Verkehr, den ich bis zu seiner Quelle knapp 20 Kilometer später verfolge: Kranjska Gora. Es war bestimmt einmal ein nettes Örtchen. Heute aber hat der Tourismus mit all seinen Randerscheinungen Kranjska Gora in Besitz genommen: Ein in die Jahre gekommenes Paar, das die Kinder mittlerweile durch einen etwas zu klein geratenen Hund ersetzt hat, versucht verzweifelt, diesen wieder zu bergen, nachdem er durch einen Zaun geschlüpft und in einen Bach gefallen ist. Vor dem einzigen Lebensmittelgeschäft im Ort herrschen zur Mittagszeit bürgerkriegsähnliche Zustände.

Das Spektakel setzt sich bis hinauf zu den Laghi di Fusine fort, die bald nach der italienischen Grenze warten. Es ist Ferragosto, die Hochzeit der italienischen Reiselust, und das türkisgrüne Wasser vor der Kulisse des Mangart auch wirklich zu überwältigend, um nicht hierherzukommen. Vor dem Ersten Weltkrieg gehörten die Seen zum slowenischen Teil Österreichs. Der kleine Ort Fusine in Valromana hieß damals mal Weißenfels, mal Bajsenfeljž, mal Bela Peč, dann wieder Fužine. Nach dem Krieg jedoch musste Österreich die Ortschaft an Italien abtreten. Um den Ortsnamen würdig zu italienisieren taufte man die Gemeinde auf das heutige "Fusine in Valromana". Hier stach der Nationalismus die Geographie. Denn das Römertal liegt eigentlich woanders.

Wurzenpass, Kilometer 267, 1060 m.ü.d.M.
Ein kleiner Schwenk führt mich nach Slowenien zurück. Dann bildet der Wurzenpass die letzte Bergwertung meiner Reise. Und er macht mir den Abschied von Slowenien wahrlich nicht einfach. Sowohl wegen seiner Steilheit, als auch wegen der Aussicht im Anstieg: Zu meiner linken bäumt sich der felsige Triglav noch einmal mächtig auf und ein bisschen überkommt mich die Wehmut, Slowenien nicht noch weiter nach Süden zu durchstreifen.
Oben am Pass irritiert ein am Straßenrand geparkter Panzer das mittlerweile etwas erschöpfte Gemüt. Er soll Besucher ins Bunkermuseum locken, das ein Oberst a.D. hier in den Überresten einer Verteidigungsanlage aus dem Kalten Krieg aufgebaut hat. Junge Männer, wohl noch restberauscht vom Urlaub am Meer, nutzen das tarngrüne Stahlungetüm, um sich in martialischen Posen für Insta-Stories zu drapieren. Ich verzichte, und lasse mich ins Tal fallen.

Villach, Kilometer 288
Fast viereinhalbtausend Höhenmeter liegen jetzt hinter, oder unter, mir, als ich an Villach heranrolle, dem Ziel meiner Reise. Hier werde ich wieder auf die Drau treffen, die ganz am Beginn meiner Grenzerfahrung stand. Die letzten Kilometer führen mich aber auf einem ruhigen Schotterpfad die Gail entlang. Es ist flach. So flach, wie es in diesen drei Tagen kaum einmal war. In den Uferböschungen grillen zwei Männer ein ganzes Spanferkel. Ich vermute, sie werden heute entweder noch Gesellschaft bekommen oder sie haben sehr großen Hunger. Und dann höre ich aus dem dichten Gebüsch, zwischen dem feinen Rauschen des Flusses, ganz plötzlich einen längst vergessenen Sommerhit: "Und ich sag': Ey, ab in den Süden / der Sonne hinterher / Ey jo, was geht? / Der Sonne hinterher…". Mehrere Stimmen begleiten den aus einem mitgebrachten Lautsprecher schallenden Refrain: lauthals, als hätten wir immer noch diesen heißen Sommer von damals, von 2003. Und ich ertappe mich dabei, wie auch ich den Text leise mitsumme. Denn auch für mich ist in diesen wenigen Tagen im Süden die Zeit ein bisschen stehen geblieben.
