Mit dem Rad durch den unbekannten Osten

Eigentlich kenne ich das Burgenland nur von der Autobahn aus. Abfahrt Pinkafeld. Raststation Loipersdorf. Das war's. Dass das vormalige Siebenburgenland heuer sein hundertjähriges Bestehen feiert schien mir daher ein guter Anlass für ein erstes Date. Am Gravelbike. 100 Jahre, 300 Kilometer. Das war der Plan. Entlang an Landschaft, Leuten und Geschichten, die viele lieber vergessen wollen. Vorweg: Am Ende sollten es mehr als 300 Kilometer werden. Aber auch mehr als 100 Jahre.
Tag 1: Seegeschichten
Wien, 2021, Kilometer 0
Den Weg von Wien aus Richtung Burgenland meide ich in der Regel. Notorisch flach, notorisch windig, notorisch autoreich ist es dort. Nun – dem Wind werde ich auch diesmal nicht entkommen. Dass ich für die nächsten drei Tage aber aufs Gravelbike steige erweist sich bald als Goldgriff, der das Einrollen über Fischamend deutlich entspannter macht. Die schottrigen Güterwege auf den welligen Vorläufern des Leithagebirges erscheinen im Vergleich zur Kampfzone der Bundesstraßen wie ein Pfad der Seligen. Mit den wenigen Traktoren herrscht friedliche Koexistenz.

Bruckneudorf, 1912, Kilometer 43,6
Kriegerisch verläuft der eigentliche Grenzübertritt ins Burgenland dennoch. Kaum ist die Leitha überschritten begrüßt mich das martialische Aufgebot eines Heereskonvois. Über dem waldigen Hügel, den sie hier Gebirge nennen, schwebt ein tarngrüner Hubschrauber. Durch den dichten Wald um mich peitschen Schüsse. Normalität seit 1912, hier am Truppenübungsplatz Bruckneudorf. Damals ging das Gebiet aus dem Besitz des Stifts Heiligenkreuz in das des Militärs über. Eines Militärs, das es sechs Jahre später nicht mehr geben sollte. Die Nachfolger erfreuen sich an der Immobilie aber noch immer. Einschlägige Schilder mit Bundesadler weisen mich darauf hin, dass es tunlichst zu vermeiden ist, Offroad abzubiegen. Daher bleibe ich lieber auf der Hauptstraße. Eine der wenigen Ausnahmen auf meiner Tour.

Breitenbrunn, 1921, Kilometer 50,8
Sanft rollen die Serpentinen den Wald nach oben. Man kann das noch nicht einmal eine Vorahnung dessen nennen, was mich an Anstiegen in den nächsten Tagen erwarten wird. Nach wenigen Kilometern wird es wieder flach und licht. Und dann verwandelt sich die Landschaft. Vor mir liegt lang und breit der Neusiedlersee. Sein ausladender Schilfgürtel schlackert im Wind hin und her. Bei Sonnenschein könnte ich wohl die Wellen glitzern sehen. Aber die Sonne ist heute wie ein scheues Reh, das den Radfahrer meidet. Im Breitenbrunner Strandbad begegnen mir ein paar deutsche Touristen – wohl die ersten, seitdem der Tourismus-Lockdown vor wenigen Stunden geendet hat – die unmotiviert an ihrem Wohnwagen herumhantieren. In den Kellergassen des Örtchens herrscht ähnliche Geschäftigkeit. Nur eine Katze läuft mir über den Weg. In die Weltliteratur ist Breitenbrunn dennoch eingegangen. Im hiesigen Gasthof mit dem vielsagenden Namen Pannonia soll Jaroslav Hašeks braver Soldat Schwejk eingekehrt sein – just während seiner Stationierung in Bruckneudorf. Das 1921 veröffentlichte Buch erinnert an eine gute alte Zeit, mit einem guten alten Kaiser. Hier scheint das alles weniger lang her als anderswo.

Mich indes zieht es weiter nach Südosten. Bei Oggau wird in den sandigen, felsigen Weingärten bereits fleißig gearbeitet. Ein gutes dutzend Männer grüßt mich auf Ungarisch. Ich nicke verlegen zurück. Der Wind wird stärker und kommt nun zusehends von rechts, in diesem Fall Westen, den Hügel hinab. An schönen Tagen herrscht hier wohl reges Radtreiben. Heute treffe ich nur ein stilles Pärchen, das sich offenkundig noch nicht sicher ist, ob sein pannonischer Urlaubsplan eine gute Idee war. Mit einer Handvoll Störche lande ich in Rust, gerade als es zu Mittag läutet. Etwas verloren stehen die Kellner in den Gastgärten am schmucken Hauptplatz und warten auf Kundschaft. Aber niemand ist hier, um die erstmals seit einem halben Jahr wieder geöffneten Lokale zu strömen. Auch ich verzichte. Ganz traue ich dem Wetter nicht.

Siegendorf, 1945, Kilometer 95,4
Vorbei am Römersteinbruch St. Margarethen ziehe ich nun westwärts, dem Wind entgegen. Auf meiner Roadmap steht Siegendorf (Cindrof). Der Ort ist unscheinbar. Keine Schönheit. Eine Schule. Ein Kindergarten. Alles zweisprachig, deutsch und kroatisch. Ein alter Fabriksturm überragt die etwas trostlose Szenerie. Das Ziel meiner Suche liegt weit draußen, im Wald am Ortsrand. Eigentlich nicht zu finden, wenn man die Koordinaten nicht kennt. Kein Schild, das vom Güterweg aus darauf hinweist: Es ist ein kleiner Stein. Eine Erinnerung. An vermutlich über 500 Zwangsarbeiter, die hier am "Skradnji Brig" ("Hinterer Berg") verscharrt wurden. Sie hatten 1945, in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs, den Südostwall errichten müssen, der ein verlorenes Reich vor den heran rollenden Sowjets hätte retten sollen. Die meisten von ihnen starben an Krankheiten, in den letzten Kriegstagen wurden viele erschossen, der Rest wanderte Richtung Mauthausen. Im Wikipedia-Eintrag zu Siegendorf ist davon nichts zu lesen. Der Ort wird nicht die einzige dunkle Spur auf meiner Reise bleiben.

Den Tag meiner Tour schließe ich mit einer Passage nach Eisenstadt ab. Vorbei am Landhaus, das in seine Stil an einen italienischen Bahnhof aus der Mussolini-Ära erinnert, und in dessen Nähe meine Unterkunft liegt. Am Balkon steht ein Mann in Anzug und raucht. Von weitem sieht er aus wie der Landeshauptmann. Es scheint, als würde er den Regen riechen, der ihm entgegenweht.
Tag 2: Berggeschichten

Eisenstadt, 1761, Kilometer 111,0
Sie haben eine Heidenfreude mit ihrem großen Sohn Joseph Haydn, die Eisenstädter. Bis zum Kräutergarten gibt es fast nichts, was nicht nach dem 1761 hier angesiedelten Haus- und Hofkomponisten des Fürsten Esterházy benannt wäre (einem von dessen Vorfahren werde ich bald an anderer Stelle begegnen). Die Nacht über hat es geregnet. Der Morgen begrüßt mit Sturm. Es dräuen dunkelblaue Wolken. Vorteil: Auf den ersten Kilometern des Tages südwärts macht mir der Wind Beine.

Mattersburg, 1527, Kilometer 133,3
In Mattersburg bremse ich mich dennoch ein. Der alte jüdische Friedhof steht auf meiner Liste ganz oben. Wer ihn betreten will muss sich erst einen Schlüssel bei der Polizei oder am Gemeindeamt besorgen. Ob das wirklich funktioniert muss ich zum Glück nicht herausfinden. Das Tor steht offen, da gerade der Rasen gemäht wird. Seit dem frühen 16. Jahrhundert lebten in Mattersburg – bis 1924 Mattersdorf – Jüdinnen und Juden. 1500 von ihnen wurden am hiesigen Friedhof beerdigt. Im September 1938 wehte auf der Synagoge des Ortes die weiße Fahne – als Zeichen für ein nunmehr "judenfreies" Mattersburg. Die heutigen Grabsteine stehen als Stellvertreter für das, was hier verlorengegangen ist. Dennoch lebt die Mattersburger Gemeinde weiter – in Israel. Shmuel Ehrenfeld, letzter Oberrabbiner von Mattersburg, gründete dort 1948 die Gemeinde Kyriat Mattersdorf. Noch heute führt sein Enkel die "Mattersburger Gelehrsamkeit" weiter.

Forchtenstein, 1622, Kilometer 141,2
Gleich hinter Mattersburg beginnt sich die Welt wieder zu verändern. Die flach-wellige, seit dem Neusiedlersee vom Weinbau geprägte Landschaft wird zu einem Voralpenidyll. Hinauf zur Burg Forchtenstein zieht sich eine infernalisch steile Nebenstraße, die in einen nicht minder atemberaubenden Wanderweg übergeht. Die im 14. Jahrhundert errichtete Burg ihrerseits, die auf halber Höhe des Anstiegs über das Rosaliengebirge liegt, ist seit 1622 Esterházy-Refugium. Stammvater Nikolaus hatte den richtigen Riecher dafür, was es für eine Karriere in Österreich braucht. Der Ungar konvertierte zum Katholizismus und war fortan Best Friend der herrschenden Habsburger. Die ökonomischen Früchte davon genießt die Familie noch heute.

Rund um die Burg liegt der Lehrforst der Wiener Universität für Bodenkultur. Generationen von Studenten haben hier Exkursionen verbracht. Man erzählt sich von durchzechten Nächten und nicht minder heiteren Jagdausflügen. Auf die holprige Abfahrt durch den Wald, auf der ich einen kurzen Schwenk ins Niederösterreichische mache, folgt zunächst wenig Spektakel. Vielmehr sortenreine Gegend. In Oberpetersdorf läuten bereits um 11 Uhr die Glocken. Sowohl an der katholischen, als auch an der evangelischen Kirche. Entweder, man isst hier bereits früh zu Mittag, oder ist irgendwann mit der Zeitumstellung durcheinander gekommen. Man scheint sich auch so zurechtzufinden.

Bernstein 1895, Kilometer 195
Zur Sache geht es erst wieder eine Weile später, als ich mich dem Geschriebenstein nähere. Hier wird mir noch einmal in aller Klarheit bewusst, dass ich das Burgenland topographisch deutlich unterschätzt habe. Hinauf über das illustre Örtchen Kogel ins nicht minder mondäne Redlschlag sinken die Steigungsprozente nie in den einstelligen Bereich. Zum Glück begegnet mir auf dem schmalen Sträßchen kein Auto – ich brauche die ganze Fahrbahnbreite und vergeude jede Menge Atemluft mit Fluchen. Leider fehlt nach den etwa sechs quälenden Kilometern die Belohnung des Ausblicks ins Tal. Die von Bäumen verstellte Einmündung meiner Route in die Bundesstraße ist alles, was sich dem müden Reisenden bietet – dann geht es hinab. Erst nach Bernstein, das leicht erhöht über dem Tal im Wind steht. Wie schon in Breitenbrunn hat hier die Weltkultur für Weltruhm gesorgt. Der Forscher und Weltkriegspilot László Almásy wurde 1895 in Bernstein geboren. Seine Biographie stand Modell für den Roman und Film "Der englische Patient" aus dem Jahr 1996. Mehr als sein Name soll in Hollywood aber nicht mehr vom historischen Almásy übriggeblieben sein. Es dürfte ihm egal sein.

Der steirische Patient auf burgenländischem Boden ist zu diesem Zeitpunkt schon gehörig angeschlagen. Die Anstiege haben ihm Tribut abverlangt. Entspanntes Ausrollen ist ihm heute freilich nicht beschieden. Zwischen hier und Pinkafeld liegen noch ein paar stachelige Hügel. Dass langsam wieder der Regen heran weht – geschenkt. Die sanften Tropfen spielen ein Abschiedskonzert für den zweiten Tag.
Tag 3: Grenzgeschichten
Über die Universitätsmetropole Pinkafeld lässt sich sicher vieles sagen. Auch weniger Gutes. Aber wenn einen das etwas schläfrige Nest im Südburgenland morgens mit warmen Sonnenstrahlen begrüßt, dann ist das nach zwei naturtrüben Tagen schon allerhand. Als ich vor die Tür trete merke ich jedoch auch: Der Wind hat gedreht und weht mir heute auf meinem Weg in den Süden direkt entgegen.

Oberschützen, 1938, Kilometer 225,8
Erst aber zieht es mich noch ein Stück ostwärts. in Oberschützen stoße ich auf das wohl befremdlichste Denkmal des Landes. Eine tempelartige Anlage am Ortsrand blickt von einem Hügel in die Landschaft. Es wurde einst errichtet, um den Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland zu feiern. Danach entschied man sich, es nicht zu entfernen, sondern als Mahnmal für eine historische Verirrung stehen zu lassen. Die richtige Entscheidung, wie ich finde.

Rechnitz und Deutsch Schützen, 1945, Kilometer 252,3 und 270,8
Das Denkmal in Oberschützen tritt in Beziehung zu den nächsten beiden Punkten, die ich auf meiner Route ansteuere, und die weit weg von der Jubelstimmung des Anschlussjahres an das Ende des Zweiten Weltkrieges führen: Der Kreuzstadl in Rechnitz und die Martinskirche in Deutsch Schützen. Sie liegen ganz nah an der Grenze. Nach Ungarn hin flacht das Land bereits wieder deutlich ab. Da wie dort ließen die Nationalsozialisten Zwangsarbeiter am Südostwall arbeiten, um sich vor der russischen Armee zu schützen. Im März 1945, die Aussichtslosigkeit des Unterfangens war unübersehbar, kam es an beiden Orten zu Massenhinrichtungen von Arbeitern. Erst 1995 fand man in Deutsch Schützen das Massengrab hinter der Kirche. In Rechnitz sucht man danach noch immer.

Bildein, 1949, Kilometer 285,4
Nur einen Steinwurf entfernt schreibt man die Geschichte hingegen neu. In Bildein thront zwischen den Äckern ein alter Wachturm, daneben stehen Stücke des alten Eisernen Vorhangs, der Österreich und Ungarn von 1949 bis 1989 trennte. Der verlief zwar woanders, aber die Touristiker haben an der herbeigeschafften Attraktion wohl ihre Freude. Immerhin wirbt Bildein für sich mit dem Slogan "Dorf ohne Grenzen". Mit dem eigentlichen Grenzverlauf muss man es da nicht so genau nehmen.

Güssing, 1459, Kilometer 294,4
Zwei Hügel sind es dann nur, die mich zum Ende meiner Reise aus dem Kalten Krieg noch einmal weit zurück ins Mittelalter befördern. Burg Güssing ist die älteste Festung im Burgenland. Seit dem 12. Jahrhundert harrt sie unbeirrt dessen, was da von Westen oder Osten kommen mag. Wie zum Beispiel ein Grüppchen ungarischer Adliger, das sich hier 1459 versammelte. Der Grund: Die edlen Herren waren unzufrieden mit ihrem König Matthias Corvinus. An seiner Stelle wählten sie Kaiser Friedrich zum Monarchen. Der fühlte sich zwar geschmeichelt, verzichtete ein paar Jahre später aber wieder auf den Königsanspruch, um sich's mit Matthias nicht ganz zu verscherzen. Der sollte noch drei Jahrzehnte König bleiben.

Die wahre Geschichte. Kilometer 320
Ab Güssing zeigt mein Weg dann nur noch nach Westen, wo ich bei Fürstenfeld wieder Abschied nehmen will, nach drei Tagen im Burgenland. Er führt zwischen Apfelbäumen hindurch und kreuzt immer wieder mal ein Örtchen. Krautgraben. Kukmirn. Rudersdorf. Die Höhepunkte sind rar. Aber die eigentliche Geschichte meiner Reise wird auf diesen Kilometern zu Ende geschrieben. Wie in all den unzähligen Dörfern zuvor komme ich auch hier an ihnen vorbei: Den verlassenen Tankstellen. Den Wirtshäusern, in denen seit Jahrzehnten nichts mehr auf den Tisch kommt. Den verfallenen Häusern, aus denen das Leben gezogen ist. Sie alle erzählen eine Geschichte, die keine genaue Jahreszahl kennt, und die wohl in keinem Geschichtsbuch je aufscheinen wird. Und dennoch gehören sie zu dem Flecken Erde, auf dem sie stehen, wie es ähnliche Orte überall auf der Welt tun. Für die, die hier wohnen, sind diese Ruinen wie das Bild eines verstorbenen Angehörigen an der Wohnzimmerwand. Sie sind liebevolle Erinnerungen, mit denen man jeden Tag lebt. Auch wenn sie langsam verblassen. Und irgendwann verschwinden.

Text und Fotos © Michael Windisch