
Krk, das klingt nach knirschendem Kies. Das wäre schon Grund genug, um der Insel an der kroatischen Adriaküste einen Besuch mit dem Gravelbike abzustatten. Wenn zuhause Anfang April zudem noch einmal der Winter übers Land hereinbricht und ich gerade ein paar Tage Urlaub habe sind die Argumente für einen Inselausflug kaum mehr zu widerlegen. Also begebe ich mich in für mich unbekanntes Terrain – in den kroatischen Karst. Unbekannt zumindest, was das Graveln anbelangt. Mit dem Rennrad war ich schon in Kroatien unterwegs. Im Sommer waren die brütend heißen, charmant schroffen Felsküsten vor Istrien und Dalmatien früher ohnehin erste Anlaufstelle für uns Sonnensüchtige aus der Steiermark. Doch das ist schon eine Weile her.

Quartier beziehe ich diesmal in Kraljevica, unweit von Rijeka. Eine Burg, ein kleiner Hafen, eine Touristeninformation, die um drei Uhr Nachmittags die Rolläden hochfährt – und bei genauerer Betrachtung gar nicht erst hätte aufsperren müssen. In der einzigen Bar am Pier sitzen ausschließlich Einheimische. Ein Radler mit Skizzenblock und Vorliebe für Espresso Doppio ist hier ein bunter Hund. Die Kellnerin jedenfalls ist von meinem Erscheinen offenbar so irritiert, dass sie gleich mal ihren Autoschlüssel neben meinem Kaffee liegen lässt. Mir aber bietet Kraljevica einerseits eine Brücke hinüber nach Krk, und andererseits ein Tor ins Landesinnere. In beide Richtungen zieht es mich in den nächsten Tagen – ans Meer und in die Berge. Das Beste aus beiden Welten, könnte man sagen.
Tag 1: Irgendwo am Mond

Die Überfahrt auf die Insel erweist sich als erster Grenzgang. Auf einer Mischung aus Gehweg und Lagerplatz für Baustellengeräte versuche ich, mich vor dem morgendlichen Stoßverkehr in Sicherheit zu bringen. Links von mir die Kolonne, rechts, 67 Meter unter mir, das Meer. Für Radfahrer wurde die eineinhalb Kilometer lange Brücke 1980 ganz offensichtlich nicht gebaut. Kaum auf der Insel angekommen versuche ich daher, Meter zwischen mich und die Autos zu bringen und schlage mich in das allgegenwärtige Buschwerk – ein Gemenge aus Kiefern, Oliven, Felsen und dem, was man in Österreich "Gstettn" nennt. Dazwischen furchen sich Wege Richtung Süden, die oft recht unvermittelt ihre Identität wechseln. Mal sind es Schotterautobahnen, mal felsige Singletrails, die wohl eher auf Wanderer gewartet haben als auf Graveljünger. Steinerne Mauern dienen als Weidezäune für Schafe, die mir aber den ganzen Tag über verborgen bleiben – genauso wie Wanderer oder andere Radfahrer.

Kurze Erholung von der Rüttelpiste im Schafterrain hole ich mir bei meiner Abfahrt auf einem leidlich asphaltierten Sträßchen, das mich an die Küste führt. Im Sommer liegen hier Deutsche und Österreicher friedlich Seite an Seite in der Bruthitze. Zwei Wochen vor Ostern ist noch niemand da. Nur ein Mischwagenfahrer steht an einer Kreuzung und weiß offenbar nicht ganz genau, warum er hier ist. Auch ich verabschiede mich bald wieder in Richtung bergauf. Ein flacher Meter ist an der kroatischen Küste ohnehin kaum zu finden – die betonierten Strandpromenaden einmal ausgenommen. Auch der Schotter ist zurück. Es geht hinauf zum Mondplateu, das so aussieht, wie es heißt. Der Wind bewegt die noch kühle Vorfrühlingsluft heute nur sanft. Die Form der Sträucher aber zeugt davon, mit welcher Macht die Bora hier gerne zuschlägt.

Zwei Täler weiter fängt eine Steinsäule meinen Blick, die hoch über dem Meer auf Krähenfüßen zu thronen scheint. Nachforschungen ergeben: Die Säule bildet ein glagolitisches "A". Der Slawenmissionar Kyrill hatte die glagolithische Schrift im 9. Jahrhundert erfunden. Während sie anderswo bald vom Kyrillischen verdrängt wurde, hielt sie sich vor allem auf Krk bis ins 19. Jahrhundert – egal ob die Insel nun den Italienern, Venezianern oder Österreichern gehörte. Mittlerweile ist sie zu einem Symbol kroatischer Nationalisten im Kampf gegen das "serbische" Kyrillisch geworden. Dabei war es mit Josip Broz Tito ein gebürtiger Kroate gewesen, der – auf seine äußerst fragwürdige Art und Weise – versuchte, die Nationalitäten am Balkan einander näher zu bringen. Auf Krk erwies man dem Diktator die Ehre, indem man ihn als erstes auf dem 1970 eröffneten Flughafen der Insel landen ließ, an dem ich wenig später vorbeikomme. Heute bringt die Piste im Karst vor allem Touristen auf die Insel – und Waffen in den Nahen Osten, wie eine kroatische Rechercheplattform herausgefunden hat. In Sichtweite des Flughafens liegt ein schwimmendes Ungetüm vor Anker. Es ist ein Tanklager für Flüssiggas, das aus aller Welt hier ankommt und nach Mittel- und Osteuropa transportiert wird. Das Lager ging erst letztes Jahr in Betrieb. Durch den Krieg in der Ukraine und die geplante Abkehr vom russischen Gas dürfte es sich für Kroatien als Goldgrube erweisen – ein Geschäftserfolg mit schalem Beigeschmack.

Das alles erinnert mich an meinen ersten Besuch auf Krk im Jahr 1997. Als meine Großmutter von den Plänen meiner Eltern hörte, mit uns Kindern nach Kroatien zu fahren, fragte sie besorgt, ob dort nicht Krieg herrsche. Tatsächlich war der Bürgerkrieg erst seit ein paar Jahren vorüber. Als Kind hatte ich eine vage Vorstellung, was Krieg bedeutete. Eine Verbindung mit dem warmen Meer, den freundlichen Kroaten und dem Kokoseis konnte ich damals nicht herstellen. Und auch heute bemerke ich noch, dass hier nicht alles sichtbar ist und der Sonnenschein vieles überdeckt.
Tag 2: Im Wilden Westen Kroatiens

Wer von Kraljevica ins Landesinnere fährt, den erwartet erst einmal eine Wand. Schmal und steil winden sich die Sträßchen weit übers Meer hinauf. Bald sehe ich Krk und Rijeka tief unter mir. Die Landschaft durchläuft hier auf wenigen Kilometern eine bemerkenswerte Metamorphose. Aus den niedrigen Föhren werden plötzlich Buchen. Und aus den Buchen gleich darauf Fichten. Bald bin ich auf fast 1000 Metern Seehöhe angelangt und fühle mich inmitten der Alpen. An den Straßenrändern liegt noch Schnee, vor einem Sägewerk stapeln sich auf hunderten Meter Länge die Baumstämme. Als ich meinen Waldlehrpfad das erste Mal seit längerer Zeit verlasse stoße ich auf einer baumfreien Hochebene auf das kleine Örtchen Lič. Durch Zufall entdecke ich die Ruine einer Kirche, in deren Mitte noch ein Holzkreuz aufragt. "8.X. - 21.XII. 1943" ist darauf zu lesen. Leider gelingt es mir nicht, herauszufinden, was genau es mit dem Kreuz auf sich hat. Vermutlich erinnert es an schwere Tage im Zweiten Weltkrieg. Vielleicht tut das auch die Ruine selbst.

Vorbei am Stausee von Fužine geht es noch weiter hinein ins Festland. In Lokve passiere ich ein Froschmuseum, das sich in der Region offenbar großer Beliebtheit erfreut. Ganz allgemein scheint sich der Ort den schleimigen Amphibien verschrieben zu haben. Seit 1975 gibt es hier Wettkämpfe im Froschweitsprung, lerne ich. Die Sitzbänke am Wegesrand zieren grüne Kröten. Ich verzichte auf einen tiefergehenden Ausflug in die Fauna, auch wenn ich im weiteren Verlauf der Reise noch einmal enge Bekanntschaft mit einem wilden Tier machen werde. Aber dazu später.

An einem der folgenden Anstiege fällt mir sofort der ausgesprochen feine Asphalt auf – eine Rarität in diesen Gefilden –, ebenso die rot-weiß-rote Straßenbegrenzung, die an einen Formel-1-Ring erinnert. Erst als ich oben ankomme verstehe ich, wozu das alles dient. Der Anstieg fungiert im Winter als Rennstrecke für Naturbahnrodler. Ein Schild präsentiert die Namen und Nationalitäten der aktuellen Rekordhalter. Am ersten Platz: Ein Österreicher. Von unten nach oben war ich doch bedeutend langsamer als er von oben nach unten.
Vom Asphalt biege ich wenig später wieder ab auf den Schotter. Ich folge einem Schild, das mir eine Begegnung mit dem Apachenhäuptling Winnetou verheißt. Nun – ich begegne ihm nicht persönlich. Dafür taucht mitten in der kroatischen Prärie ein kleines Westerndorf auf, das 2015 als Filmset für ein Remake der Winnetou-Saga diente. Auch das Original war in den 1960ern unweit von hier gedreht worden. Wenn's einmal funktioniert, warum nicht auch ein zweites Mal, muss man sich gedacht haben – Kroatien sieht offenbar mehr nach Wildem Westen aus als der Wilde Westen selbst. Ob Wotan Wilke Möhring a.k.a. Tatort-Kommissar Falke in der Neuproduktion einen besseren Old Shatterhand abgibt als Lex Barker mögen andere entscheiden. Ich jedenfalls beende den Tag mit einer waghalsigen Abfahrt zurück ans Meer – in meinen Ohren nichts als der melancholische Soundtrack des originalen Winnetou und das Säuseln des Windes.

Tag 3: Ein anderes Belgrad
Es hat geregnet über Nacht. Das Gebirge, in dem ich gestern noch bei Sonnenschein auf Winnetous Fährten schlich, liegt heute hinter dichten Nebelschwaden. Ich starte daher den Tag mit einem sanften Warmlaufen an der Küste Richtung Süden, wo ich mir Sonne erhoffe. Stattdessen dunkelt sich hier selbst der Nebel noch ein und wird zu einer grauen Regenwolke, die sich aber glücklicherweise erst später am Tag öffnet. Bald erreiche ich Crikvenica, eines der touristischen Zentren der Gegend. Wie in Opatija, auf der anderen Seite der Kvarner Bucht, wussten die, die es sich leisten konnten, schon im habsburgischen Fin de siècle hierher zu reisen. 1891 öffnete das erste Hotel. Das "Kvarner", an dem ich vorbeikomme, als ich mich in der Altstadt verfahre, gibt es seit 1895. Als direktes Gegenmodell zu den "österreichischen" Grand Hotels in Opatija soll es im damaligen Königreich Kroatien und Slawonien vor allem ungarische Adlige angezogen haben. 120 Jahre und ein paar Staatsformen später ist das Hotel nun in österreichischem Besitz – das Rad der Geschichte dreht sich weiter.

Vom mondänen Crikvenica mit seinen Fünf-Sterne-Hotels und seiner Ramschpromenade biege ich wieder ab ins Landesinnere, für das sich die Reichen und Schönen einst wie heute offenbar weniger interessieren als für die Küste. Womöglich sind ihnen einfach die Straßen zu steil. Dass sich die Auffahrt lohnt erfahre ich jedoch immer wieder, auch heute: Belgrad heißt nicht nur die Hauptstadt Serbiens, sondern wohl auch das verlassenste aller verlassenen Dörfer auf meiner Tour. Eine alte Kirche, ein Friedhof, eine Burgruine und ein paar verwaiste Häuser schmiegen sich dicht an eine nebelverhüllte Felswand. Eine beklemmende Stille liegt über der düsteren Szenerie, die nur wenig von sich preisgibt. Hier ist die Zeit nicht stehen geblieben. Hier ist sie gnadenlos vorübergezogen.

Ein paar stachelige Hügel liegen auf den letzten Kilometern meiner Reise noch vor mir. Sie führen vorbei an illegalen Mülldeponien, an Gefechtsständen aus dem Zweiten Weltkrieg, an Wohnwägen, die bereits tief im Waldboden versunken sind, und an den dutzende Meter hohen Säulen der Autobahn, die über alledem hinweg donnert, als ginge sie das Darunter gar nichts mehr an. Als ich wieder in Kraljevica ankomme fahre ich noch einmal hinab in den Hafen, um Abschied zu nehmen. Es geht sehr zügig voran, die Straße ist noch immer feucht vom nächtlichen Regen. Da beschließt eine der zahlreichen streunenden Katzen, meinen Weg noch auf dem letzten Kilometer zu kreuzen. Mich durchfährt ein Ruck, die Bremsen schreien, die Reifen schlittern über den Asphalt, vor meinem inneren Auge sehe ich mich schon im Krankenhaus und das Tier sonstwo. Ich weiß nicht genau, wie es gelingt, aber es muss der Katze wohl zwei ihrer neun Leben kosten, dass wir beide heil wieder aus der Nummer rauskommen. So jedenfalls ziehen wir friedlich unserer Wege – und ich kann Kroatien mit einem stillen Lächeln verlassen. Bis zum nächsten Mal.
