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Am Arsch des Teufels: Mit dem Gravelbike durchs tschechische Kanada

Waldig, wild und einsam präsentiert sich Südböhmen: Eine Erkundungstour durch verlassene Landschaften und vergessene Geschichte

Gravelbiken im tschechischen Kanada bei Slavonice
Wilder Wald: Wie das echte Kanada, nur kleiner.

Die Sonne erhebt sich herbstlich über den welligen Weinbergen, als ich bei Retz die Grenze nach Tschechien passiere. In knapp einer Stunde hat sich der Zug aus Wien von einer Pendlerkonserve in ein privates Großraumabteil für mich und mein Rad verwandelt. Nicht viele zieht es hierher, in den hohen Norden. Mich aber lockt ein Versprechen, das in einem Namen liegt: Tschechisches Kanada nennt man die Gegend an der Grenze zum Waldviertel, die ich in den nächsten zwei Tagen mit dem Gravelbike ansteuere. Weil sie so waldig, so einsam und so rau sein soll wie das echte Kanada. Passend für einen Kurztrip. 200 Kilometer westwärts.

Der letzte Rest des Eisernen Vorhangs bei Čížov.
Der letzte Rest des Eisernen Vorhangs bei Čížov.

Gleich nach der Grenze geht es streng bergauf, die Wege sind schmal, der Wald dicht. Vor drei Jahrzehnten war hier noch Sperrgebiet, endeten hier zwei Welten – eine auf der österreichischen, die andere auf der tschechischen Seite. Niemand durfte dem Eisernen Vorhang zu nahe kommen. Der Wald verwilderte, was man ihm immer noch ansieht. Auf einer lichten Hügelkuppe, am Rande des Örtchens Čížov (Zaisa) – 2011 zählte man noch 35 Einwohner – verläuft heute noch ein Stück des Stacheldrahtzauns, der damals die Landschaft durchschnitt. Auch einen alten Wachturm hat man zur Erinnerung stehen lassen. Im ehemaligen Zollhaus wiederum ist heute die Verwaltung des Nationalparks untergebracht, der entstand, als die zwei Welten 1989 wieder zu einer wurden.


Kilometer 29: Hollywood an der Thaya

Die Burg von Vranov nad Dyjí.
Filmreif: Vranov nad Dyjí.

Belebter wird es erst wieder in Vranov nad Dyjí, was übersetzt soviel bedeutet wie Frain an der Thaya. Hoch droben über selbiger thront auf einem Felsen das Schloss gleichen Namens, dem selbst Hollywood mit dem Filmset von Triple X mit Vin Diesel schon seine Aufwartung machte. Wie in jedem soliden Actionthriller geht es darin um biologische Waffen und den russischen Geheimdienst. Das echte Vranov gibt sich bei meinem Erscheinen unspektakulärer. Meine Suche nach einem Trinkbrunnen verläuft erfolglos, das Ristorante Formosa, das "Czech and Asian Fast Food" anpreist, hat noch geschlossen.


Kilometer 43: Das gescheiterte Experiment


Es ist Frühherbst, sagt der Kalender. Es ist Hochsommer, sagt die Sonne. Und wie das echte Kanada besteht auch sein tschechisches Pendant mitnichten nur aus Wald, sondern auch aus Äckern. Vielen Äckern, zwischen denen ich vergebens auf Schatten hoffe. In meiner letzten Flasche sind nach drei Stunden zäher Fahrt nun nur noch zwei Schlucke Wasser, meine eiserne Reserve. Der Wind dörrt meine Lippen aus. Der Anblick einer verfallenen Kolchose – Überreste des vergeblichen Experiments, im kommunistischen Tschechien die Landwirtschaft zu kollektivieren – spiegelt mein Gemüt wider.

Die Kolchose von Stalky.
Was von der Kolchose blieb.

In Safov (Schaffa) finde ich zwar einen Brunnen, der gibt aber kein Wasser. Weit und breit zeigt sich keine Menschenseele, die ich fragen könnte. Nach einem Geschäft brauche ich gar nicht erst zu suchen. Aus ein paar Fischteichen glotzt mir eine grün-braune Wasserbrühe entgehen. Ich kann widerstehen – so verzweifelt bin ich doch noch nicht.


Safov hatte ich ohnehin nicht wegen seiner Teiche auf meine Route genommen. Am Rande des Ortes liegt an einer Böschung ein verlassener jüdischer Friedhof. Auf den meisten der verwitterten Grabsteine stehen deutsche Namen, auf einigen lese ich hebräische Buchstaben. Die jüdischen Vorfahren des ehemaligen österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky stammen von hier. Die Vorfahren dieser Vorfahren waren im 17. Jahrhundert aus Niederösterreich nach Südböhmen vertrieben worden. Als 1938 die Nazis die deutschsprachigen Gebiete Tschechiens an sich rissen, wurden die letzten Juden von hier in Konzentrationslager deportiert. Nur wenige konnten fliehen. Etwas später an diesem Tag komme ich in Písečné (Piesling) an einem weiteren ehemaligen jüdischen Friedhof vorbei. Auch er liegt verschämt am Rande des Ortes in einem Waldstück. Wer ihn nicht sucht, wird ihn nicht finden.

Versteckt im Wald: Der jüdische Friedhof von Písečné.
Versteckt im Wald: Der jüdische Friedhof von Písečné.

Kilometer 60: Die Oase Oslnovice


Mittag ist längst vorüber. Die Sonne steht gnadenlos über den Burgen Zornstein und Bitov am Thaya-Stausee, an dessen Ufern herrenlose Ruderboote auf Ausfahrten warten. Bald bin ich fünf Stunden unterwegs. Auch im nächsten Ort erwarten mich nur verschlossene Türen und Fenster, aber kein Trinkwasser. Ein Hauch von Verzweiflung keimt auf, der Durst wird unerträglich.


Doch meine Rettung kommt in Oslnovice (Höslowitz). Auf meiner Karte ist es nicht mehr als ein kleiner Fleck ohne Sehenswürdigkeiten, nichts, wo ich mir Ströme kühlen Wassers erwarte. Eigentlich wollte ich nördlich daran vorbeifahren, doch ich wage den Umweg. Auf der einzigen größeren Kreuzung des Ortes treffe ich eine Frau, die gerade im Begriff ist, Blumen zu gießen. Wer Blumen gießt, muss Wasser haben, schließe ich geistesgegenwärtig. Als ich ihr näher komme, bemerke ich, dass das Haus, vor dem sie ihre Pflanzen bewässert, ein kleiner Greißlerladen ist. Am Ende stellt sich die Frau sogar noch als dessen Kassiererin heraus. Neun Kronen, knapp vierzig Cent, für zwei Liter Wasser scheinen mir eine der besten Investitionen seit längerer Zeit. Mit ihnen bringe ich auch die letzten Kilometer des Tages hinter mich. In der 2000-Seelen-Metropole Slavonice (Zlabings) genieße ich ein wenig Zivilisation in Form eines doppelten Espresso, bevor es am nächsten Tag noch tiefer hineingeht: ins dunkle Herz Kanadas.


Kilometer 98: Pilze aus Beton

Die Bunkeranlage bei Slavonice sollte in den 1930ern die tschechoslowakische Grenze schützen.
Die Bunkeranlage bei Slavonice sollte in den 1930ern die tschechoslowakische Grenze schützen.

Ich verlasse Slavonice kurz nach Sonnenaufgang. Es ist empfindlich kühl. In den Morgenstunden macht sich der Herbst bemerkbar, der schattige Nadelwald, den die Sonnenstrahlen erst nach und nach durchdringen, tut sein Übriges. Ein Forstweg führt steil bergan und mündet in einen moosigen Singletrail, der an einer Bunkeranlage aus den 1930er-Jahren vorbeiführt. Die Tschechoslowakei – in dunkler Vorahnung – gab sich damals alle Mühe, ihre jungen Grenzen zu sichern. Immer wieder waren mir auf meiner Fahrt bereits vereinzelte Bunker begegnet. Die Anlage bei Slavonice aber bildet ein dichtes Netz, das hier, mitten im Nirgendwo, wie ein surrealer Schwarm betonierter Pilze anmutet.

Eine Lichtung im tschechischen Kanada.
Das Verkehrsaufkommen ist überschaubar.

Auf Pilzsuche schickt mich wenig später meine – zugegebenermaßen von mir selbst verbrochene – Route. Kaum vorbei an der Ruine Böhmisch Rudoletz, leitet mich der Track auf einen Trampelpfad über eine vom Morgentau noch feuchte Wiese. Mir schwant Übles, als der Weg im Dickicht des angrenzenden Waldes verschwindet. Was folgt, sind schwere Kilometer zwischen Farnen und Dornen, über Steine und Wurzeln. Und wieder einmal erkenne ich: Wenn der Gedanke ans Umkehren kommt, ist es eigentlich schon zu spät. Es bleibt nur, weiterzutreten, und das Beste zu hoffen.


Doch das Manöver wird belohnt. Aus dem Nichts offenbart sich mir eine Wasserstelle. Eine wohlmeinende Seele hat sogar drei, vier Blechtassen für durstige Kehlen hinterlassen. Das Wasserdrama vom Vortag noch im Hinterkopf nutze ich die Gelegenheit, und setze die Rumpelfahrt mit zwei prall gefüllten Flaschen fort.


Kilometer 118: Des Teufels Hinterteil

Felsformation "Arsch des Teufels"
Ein Hintern aus Granit.

Auf einem grasbewachsenen Hochplateau erreiche ich den nördlichsten Punkt meiner Reise: Es ist der "Arsch des Teufels", eine Felsformation, von deren Ähnlichkeit mit einem Hinterteil ich mich gerne überzeugen lasse. "Osculum infame" – Kuss der Schande – nannte man während der Hexenverfolgungen der frühen Neuzeit den Kuss, den die vermeintlichen Magierinnen zur Ehrerbietung auf das Gesäß des Höllenfürsten zu entrichten hatten. Selbst Goethe schlachtete das Spektakel in der Rohfassung seines "Faust" in obszönsten Tönen aus – um es vor der Veröffentlichung wieder zu streichen. Wie auch immer: Wenn es je zu einem solchen Kuss gekommen sein sollte – hier in aller Einsamkeit scheint mir definitiv der rechte Ort dafür.

Gruppenbild mit Rind.
Gruppenbild mit Rind.

Kilometer 138: Das Tal der erloschenen Dörfer


Wie lange der Teufel schon sein Granit gewordenes Gesäß hier in die Landschaft streckt, weiß ich nicht. Jedenfalls war ihm ein glücklicheres Schicksal beschieden als den Ortschaften, denen ich mich nun auf meiner Fahrt Richtung Süden, zurück an die Grenze, nähere. "Tal der erloschenen Dörfer" nennen sie diese Ansammlung an ehemaligen Siedlungen, die hier vor langer Zeit im Wald verschwanden. Lange lebten hier vorrangig deutschsprachige Familien. Als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, wurden sie, wie in vielen Orten in ganz Tschechien, über die Grenze nach Österreich vertrieben. Ihre Häuser – sie standen zu nah am Eisernen Vorhang – wurden dem Erdboden gleichgemacht. Zu sehen ist von ihnen nichts mehr. Nur auffällige, mit Moos und Gras überwachsene Erdhügel am Wegrand lassen mich vermuten, dass darunter der Schutt dieser Dörfer ruht.

Ein Wald im tschechischen Kanada
Über allen Wipfeln ist Ruh.

Auf einem schmalen Schotterpfad überquere ich die Grenze nach Österreich. Nur zwei marmorweiße Steine im Boden verraten mir, dass sich hier etwas verändert. Der Landschaft hingegen ist die Grenze egal. Der dichte Wald wechselt sich da wie dort mit Lichtungen ab, auf denen brusthoch, herbstlich gelb, Gräser im lebhaft aufbrausenden Wind wiegen. Da wie dort liegen zwischen den Wäldern die Felder, verbunden nur durch in die Erde gepresste Wege. Auf welcher Seite der Grenze das Land zu liegen gekommen ist, scheint nicht mehr als ein historischer Zufall.


Kilometer 191: Der Zufall der Grenze

Gravelbiker auf Schotterweg im tschechischen Kanada.
Der Wald, der Weg und ich.

Nirgendwo wird das so klar wie am Zielort meiner Reise in Gmünd. In der Monarchie bildete die Stadt einen wichtigen Verkehrsknotenpunkt. Hier verkehrten die Züge, die die Metropolen Wien und Prag miteinander verbanden. Doch nach dem Ersten Weltkrieg wurde Gmünd geteilt. Auf tschechischer Seite entstand der siamesische Zwilling České Velenice (Böhmisch Wielands), zu dem nun auch der frühere Gmünder Hauptbahnhof zählte. Die für das Kaiserreich so wichtige Franz-Josefs-Bahn sollte im Kalten Krieg in der Bedeutungslosigkeit versinken.


Doch der Kalte Krieg, der Eiserne Vorhang – sie gibt es nicht mehr. Heute enden die von Wien kommenden Züge wieder auf der tschechischen Seite. Die Geschichte ist geduldig mit den Grenzen, die die Menschen ziehen. Denn keine davon ist für die Ewigkeit.


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